Gratis Südfrüchte und Begrüßungsgeld

Das 1. Mal im Westen

Freitag, 17. November 1989
In der folgenden Woche heißt es Anstehen nach einem Visum. Vor dem VPKA (Volkspolizeikreisamt) Mitte in der Karl-Marx-Straße (heute Bürgerbüro) stehen die Leute in Doppelreihe, bis zu einhundert Meter, und warten geduldig. 40 Jahre hat es gedauert, jetzt machen ein, zwei Stunden auch nichts mehr aus. Da! Ich habe ihn, meinen Stempel im Ausweis. Deutsche Gründlichkeit, aber es muss ja alles seine Richtigkeit haben. Hurra, einer Reise nach Braunschweig steht nun nichts mehr im Wege. Für alle gibt es 20 D-Mark, die man auf der Staatsbank der DDR am Domplatz 1:1 eintauschen kann. Noch einmal Schlangestehen. Egal.

Samstag, 18. November, frühmorgens. Es ist kalt, der Winter hat Einzug gehalten. Der Zug geht 5.45 Uhr vom Magdeburger Hauptbahnhof. Ein Geschiebe und Gedrängel auf dem Bahnsteig, keiner weiß genau, von wo der Zug abfährt. Ein bekanntes Gesicht. Der Parteisekretär meines Betriebes läuft mir über den Weg. Ah, sieh an, denke ich, du also auch, und kann mir ein Grinsen nicht verkneifen.
Bei Sonnenaufgang passiert es dann. Das muss die Grenze sein, die bisher den Weg ins andere Deutschland versperrte. Jetzt sind wir im Westen.

Ankunft 7.35 Uhr in Braunschweig. Es werden Stadtpläne verteilt. Ich folge erst mal den anderen Leuten, irgend jemand muss ja wissen, wohin. Auf der Post zahlen sie die 100 DM Begrüßungsgeld aus, die jeder DDR-Bürger bei seinem ersten Besuch in der BRD erhält. Nun habe ich also 120,- DM in der Tasche und weiß nicht wirklich, was ich damit anfangen werde. Die wollen gut eingesetzt sein. Keine Ahnung, was ich dafür bekommen bzw. kaufen werde.
So wie die anderen sicher auch, bin ich überwältigt von all den vielen Waren. Bekleidung, Elektroartikel, Lebensmittel, Obst. Die Augen gehen mir über bei der Vielfalt und Fülle. Das habe ich noch nie gesehen. Überall ein Glitzern und Leuchten, surreal, unwirklich, eine mir fremde, unbekannte Welt, zu der das Tor aufgestoßen wurde. Was wirklich hinter der Mauer liegt, müssen wir erst erkunden. Es wird sicher nicht nur Positives sein. Viele werden den Verlockungen des Konsums erliegen. Bald wird aus „Wir sind das Volk“ der Ruf werden „Wir sind ein Volk“ und „Kommt die D-Mark bleiben wir“

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