Kundgebung Magdeburger Domplatz – 4. November 1989

Reformen statt Reformulierungen

25 Jahre sind seit der Wende 1989 vergangen. Mit einer Reise in die Vergangenheit lasse ich die Ereignisse jener Tage für mich, für euch, noch einmal aufleben….

Nach den Protesten am Republikgeburtstag (7. Oktober 1989) gehen Montag für Montag immer mehr Menschen auf die Straße. Die anhaltenden Demonstrationen, die später unter der Bezeichnung Montagsdemonstrationen in die Geschichte eingehen werden, sind von Partei und Politbüro nicht mehr zu ignorieren. Als eine erste Maßnahme wird der alte und kranke Staatsratsvorsitzende Erich Honecker zur Abdankung gedrängt. Am 17. Oktober übernimmt Honeckers Ziehsohn, der schon lange als sein Nachfolger gehandelte Generalsekretär der Jugendorganisation FDJ, Egon Krenz, die Staatsführung. (für sieben Wochen !!! )
Die vermeintliche Verjüngung (Krenz ist bereits 52 Jahre) kommt bei der Bevölkerung nicht in dem beabsichtigten Maße an. Der Austausch des Mannes an der Spitze reicht längst nicht mehr. Wirkliche Veränderungen müssen her. Das wird immer und immer wieder gefordert. Auf Transparenten, Spruchbändern, Sprechchören.

Die Proteste auf der Straße wenden sich gegen die Unfreiheit, staatliche Repressionen und Bespitzelungen, gegen die Altherrenriege, denen der Blick für die Realität im Lande längst abhanden gekommen ist.
Ein Witz macht deutlich, was man von der Parteiführung hält – Frage: Was passiert zu Beginn jeder ZK-Sitzung (Zentralkomitee der SED)? Antwort: Das Einschalten der Herzschrittmacher!
Derartige Witze durften selbstverständlich nicht laut oder gar öffentlich erzählt werden.

Kulturschaffende, Schriftsteller, Musiker richten sich mit einem offenen Brief an die Staatsführung, fordern den Dialog und Reformen. Reisefreiheit und Mitbestimmung durch die Opposition, wie das Neue Forum oder Bürgerkommitees, sind essentielle Themen.

Am 4. November 1989 kommt es auf dem Alexanderplatz in Berlin zu einer Großkundgebung, an der sich 500.000 Menschen beteiligen. In Magdeburg sind es 50.000.

Ein kühler, wolkenverhangener Novembertag. Ziel unzähliger Magdeburger an diesem Vormittag ist der Domplatz. Diesmal kommen sie freiwillig. Tausende! Keine von der Partei verordnete Kundgebung. Auf der Nordseite des Platzes ist ein Podest errichtet. Ein Podium, ein offenes Mikrofon, für alle, die etwas zu sagen haben. Der Dialog ist eröffnet. Endlich!
Für die Vertreter der Staatsmacht, der Partei SED, bedeutet es Farbe zu bekennen.
Mit meiner Kamera, einer Practica EE3, erklettere ich ungehindert das Podest, dokumentiere das Geschehen.
Ein Meer an Köpfen, das bis zum Dom im Süden reicht. Etwa 50.000 sollen es sein, so erfahre ich später. Transparente ragen in die Höhe, fordern die Absetzung der Führung und immer wieder Reisefreiheit. Die Themen der Redner sind vielfältig, emotionsgeladen, energisch. Reden, die manchmal einfach nur Wut oder Resignation erkennen lassen. Einmal sagen zu können, was einem auf der Seele brennt. Endlich. Öffentlich! Ohne Angst vor einer Staatssicherheit, vor Verhaftung, Repressionen.

Meine Kamera klickt, klickt und klickt. 60, 70 Fotos, die ich an diesem Tag verknipse, auf Schwarz-Weiß-Film. Fotos, von denen ich noch nicht genau weiß, ob und was sie zeigen werden. Das wird sich mir erst später im Labor offenbaren.

Was wir wollen, was die Menschen in dieser Stadt, im ganzen Lande wollen? Die Transparente sagen es: Mitbestimmung – „SED allein, darf nicht sein“, „Neues Forum statt Alte Herren“, Reisefreiheit – „Visafrei bis Hawaii“, Offenlegung – „Zeigt her eure Häuschen“. „Reformen statt Reformulierungen“ … „Parteienpluralismus“ „Etwas Neues braucht das Land: SDP und Neues Forum“, Keine Repressionen für Regimegegner, kritische Künstler, Bürger – „Kultur statt Zensur“, „Pluralismus + Freie Wahlen = Demokratie“ … die SED müsse ihren „Führungsanspruch beweisen und nicht behaupten“. Zugang zu Presse und Medien „Eigene Zeitung für das Neue Forum“.
Vor allem will man erst einmal den Dialog. Einen „Runden Tisch“ mit Opposition und Staatsmacht. Zu vieles liegt im argen. Umweltprobleme und die Versorgung der Bevölkerung sind nur einige Themen. Die Menschen wollen keine Schönfärberei mehr.
Und noch ein weiteres wichtiges Zeichen setzen die Demonstranten: „Bleibt im Land“!!!
All das und noch viel mehr wird an diesem Vormittag von den Rednern auf dem Domplatz angesprochen.

Magdeburgs Oberbürgermeister Werner Herzig (seit 24 Jahren im Amt) sowie Werner Eberlein , Mitglied im Politbüro des ZK der SED und 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Magdeburg, haben einen schweren Stand, versuchen die Massen zu beschwichtigen, werden ausgepfiffen. Auf Versprechungen will sich niemand mehr einlassen.

Eberlein, Kommunist aus Überzeugung, und Herzig spüren, dass da etwas kocht. Ratlosigkeit und Unverständnis sind in ihren Gesichtern zu lesen.

„Das Staatsvolk der DDR geht auf die Straße, um sich als Volk zu erkennen. Und dies ist für mich der wichtigste Satz der letzten Wochen, der tausendfache Ruf: Wir sind das Volk!“
Aus der Rede von Christa Wolf,4. November 1989, Berlin, Alexanderplatz

„Im Herbst 1989 sind wir auferstanden aus Ruinen und der Zukunft neu zugewandt. Und bald werden wir dieses Lied auch wieder singen. Hier lohnt es sich jetzt, hier wird es spannend, bleibt doch hier. Jetzt brauchen wir buchstäblich jeden und jede“.
Apell Friedrich Schorlemmers 4. November 1989, Berlin, Alexanderplatz

Als ich später nach Hause gehe, friedlich, wie all die anderen auch, habe ich ein Gefühl, etwas besonderes erlebt zu haben, an einem historischen Tag dabei gewesen zu sein. Dieser Tag ist etwas besonderes, einmaliges. Wir haben Geschichte geschrieben. Bis zum Mauerfall am 9. November sollen nur noch fünf Tage vergehen.

*